Die Zukunft des Spatial Computing

Spatial Computing lässt die Grenzen zwischen digitaler und physischer Welt verschwimmen.

Spatial Computing hat uns bereits virtuelle Assistenten für Zuhause und Mitfahr-Apps beschert. Gamer können im eigenen Wohnzimmer gegen Dämonen kämpfen und Shopper Kleidung in der digitalen Ankleide anprobieren. Als nächstes käme dann, dass wir als Avatare zur Arbeit gehen, einkaufen und uns mit Freunden treffen – in einer dreidimensionalen digitalen Welt, die sich über unsere eigene legt.

Die Vorstellung eines „Metaversums“, das mit Spatial Computing geschaffen wird, beschränkt sich längst nicht mehr auf die Science-Fiction.

Facebook hat einen ganzen Geschäftsbereich für dessen Entwicklung eingerichtet und dem Unternehmen sogar einen neuen Namen gegeben: Meta. Microsoft-Chef Satya Nadella träumt von einem „Metaversum für Unternehmen“.1 Und Jensen Huang, Chef des US-Chipherstellers Nvidia, von „einer digitalen Welt, in der es von jedem von uns einen digitalen Zwilling gibt“.2,3

Ihre Vision von einem sichtbaren alternativen Raum, der immer „on“ ist und laufend mit dem realen Raum interagiert, ist noch lange keine Realität. Doch die Spatial-Computing-Revolution ist in vollem Gange, befeuert durch Technologien wie AR, VR und Mixed Reality (MR).

Was ist Spatial Computing?

„Spatial Computing integriert Technologien wie Virtual Reality und Augmented Reality in die echte Welt, sodass wir uns in der virtuellen und der physischen Welt gleichzeitig bewegen und interagieren können“, erklärt die Erfinderin Corinna Lathan, die in den USA das Forschungs- und Entwicklungsunternehmen AnthroTronix gegründet hat. „AR und VR sind Technologien. Spatial Computing beschreibt die Art und Weise, wie man sich in der Welt bewegt.“

Viele Jahre haben klobige Headsets, Latenzen und nicht genug brauchbarer Content den Aufstieg dieser Technologien ausgebremst. Im Zuge der Fortschritte im Bereich 5G-Netze und -Smartphones ändert sich das gerade. „AR kam irgendwann Mitte der 90er Jahre auf, ist aber in den Kinderschuhen steckengeblieben, weil es noch keine Smartphones gab. Als dann plötzlich das Smartphone auf den Markt kam, passte es auf einmal“, sagt Alex Jenkins, Creative Director des Geschäftsbereichs „Interactive Arts“ bei Nexus Studios, einem Film- und Kreativtechnologiestudio mit Sitz in London und Los Angeles.

Die heutigen Mobiltelefone sind mit Kameras und GPS ausgestattet, sodass reale und digitale Welt verschmelzen können. Ihre Rechenleistung und ihre Funktionen werden immer besser. Neuere iPhones sind mit LiDAR ausgestattet, einem Sensor, der kleinste Details mit höchster Genauigkeit in Echtzeit erfasst und den Jenkins als „bahnbrechenden Impulsgeber für das Spatial Computing“ bezeichnet.

Beim Gaming rücken die beiden Welten am stärksten zusammen. Der US-Softwareentwickler Niantic nutzte Spatial Computing 2016 für sein extrem beliebtes „Pokémon Go“. Gerade entwickelt das Unternehmen eine weltweite AR-Plattform für skalierbare Benutzerinteraktionen. Gamer können mittlerweile auch immer komplexeren Content in ihr Zuhause projizieren.

Nehmen wir als Beispiel das US-Unternehmen Illumix, das auf AR-Entertainment, -Technologie und -Gaming spezialisiert ist und mit dessen Technologie das beliebte Horror-Game „Five Nights at Freddy’s“ entwickelt wurde. Die Gamer können sich die animatronischen Grusel-Figuren direkt ins Zimmer holen. „Das ist schon etwas ganz anderes als ein Horror-Game auf dem PC oder Smartphone“, erklärt Kirin Sinha, Gründerin und CEO des Unternehmens. „Das Erlebnis wird direkt erlebbar, immersiver, Horror pur, und gleichzeitig passt es sich an den Raum an.“

Als Vorgeschmack darauf, wie das Metaversum aussehen könnte, verweisen Analysten auf das Action-Game „Fortnite“ von Epic Games.4 Am Anfang war es nur ein Videospiel, aber dann entwickelte es sich zu einem sozialen Universum, in dem die User chatten, Marken Werbung für ihre Produkte platzieren und Musiker Live-Konzerte für Millionen Zuschauer über digitale Avatare geben. Im April kündigte Epic Games an, man wolle sich in einer neuen Finanzierungsrunde 1 Milliarde US-Dollar sichern, um die Vision des Metaversums umzusetzen.5

Teile eines Metaversums

Ausserhalb des Tech-Sektors kommen Marken erst langsam auf die Idee, die Möglichkeiten von Spatial Computing für ihre Zwecke zu nutzen.

Für Labels wie Macy’s und Adidas6  war die Pandemie ein Zündfunke, um mithilfe von AR und VR virtuelle Anprobekabinen zu entwickeln. Andere wiederum haben digitale 3D-Zwillinge ihrer Stores erstellt. 2019 haben die Dallas Cowboys (American Football), die wertvollste Sportmannschaft der Welt, in Partnerschaft mit Nexus Studios Projektionen in Form von riesigen Avataren in ihrem Stadion entwickelt. Die Zuschauer konnten sich die Spieler sowie die Echtzeit-Spielstände einfach ins Wohnzimmer holen.

Für all diejenigen, die diese Technologien vorantreiben, sind Beispiele wie diese der beste Beleg, dass sie funktionieren. „Das Interesse ist gross, es wird viel geforscht, was mit Spatial Computing alles möglich ist. Ich sehe einen echten Wandel, die Leute experimentieren nicht einfach nur so, sie wollen wirklich etwas damit erreichen“, so Jenkins. Kirin Sinha von Illumix rechnet mit einer „Demokratisierung dessen, was früher eine sehr teure, hoch spezialisierte hardwarebasierte Technologie war“. Sie erklärt: „Beim Spatial Computing braucht man einfach nur ein Smartphone oder einen Browser, egal wo auf der Welt.“

Heilung per Hologramm

Es gibt neben Handel und Entertainment noch weitere Einsatzbereiche. Spatial Computing könnte Fabriken effizienter und Arbeitskräfte produktiver machen. Es könnte uns helfen, uns mit Kollegen zu „treffen“, die hunderte oder tausende Kilometer von uns entfernt sind. Und auch in das stark regulierte Gesundheitswesen hält die Technologie Einzug.

„Diese Technologie breitet sich in so vielen Bereichen aus. In den kommenden Jahren wird die Ausbreitung exponentiell sein“, so Nassir Navab, Forschungsleiter für den Bereich computergestützte medizinische Verfahren an der Technischen Universität München und an der Johns Hopkins University.

Wissenschaftler an Kliniken experimentieren mit allem, von ferngesteuerten Operationen bis hin zur Projektion von Röntgenstrahlen oder -Scans direkt auf die Patienten. Man hofft, dass durch Spatial Computing auch im Bereich der medizinischen Ausbildung grosse Fortschritte gemacht werden. Navabs Team entwickelt gerade ein Tool, mit dem medizinische Berater virtuelle Avatare generieren können, um ihre Kollegen aus der Ferne zu unterstützen. Von der deutschen Regierung wurde das Team beauftragt, die Technologie für die Behandlung von COVID-19-Patienten anzupassen.

Der „Heilige Gral“ wäre die Schaffung eines digitalen 3D-Duplikats eines OP-Saals und aller Personen in dem Raum. Man könnte ins Körperinnere eintauchen und den Körper aus jeder beliebigen Perspektive studieren. „Mit Virtual und Augmented Reality braucht man nicht im OP-Saal anwesend zu sein. Man setzt einfach sein Head-Display auf und schaut sich fünf Operationen nacheinander an. Und die Koryphäen unter den Chirurgen können tausende anderer Operateure an ihrer Arbeit teilhaben lassen“, erklärt Navab.

Spatial Computing macht unser Leben jetzt schon besser, und das ist erst der Anfang. „Wir werden immer mehr erleben, dass mit dem Metaversum das Vorstellungsvermögen und die Allgegenwärtigkeit von Anwendungen zunehmen. Noch bevor wir alle durch Kontaktlinsen oder Brillen in die Welt blicken, wird das digitale und physische Dasein in unserem Alltag verschmelzen, und das alles über die bereits vorhandenen Plattformen“, sagt Sinha. Da technologische Fortschritte und 5G die Datenkommunikation immer schneller machen, werden die echte und die digitale Welt immer näher zusammenrücken.

 

[1] https://edition.cnn.com/2021/08/08/tech/metaverse-explainer/index.html
[2] https://www.fudzilla.com/news/52721-huang-wants-to-create-an-alternative-universe
[3] https://www.economist.com/business/2021/07/29/facebook-eyes-a-future-beyond-social-media
[8] https://www.matthewball.vc/all/themetaverse
[5] https://edition.cnn.com/2021/08/08/tech/metaverse-explainer/index.html
[6] https://www.businessinsider.com/retailers-like-macys-adidas-are-turning-to-virtual-fitting-rooms-2020-8?r=US&IR=T