UN-Klimakonferenz in Glasgow 2021: Neustart oder falscher Hoffnungsschimmer?

Unsere Experten von Mega sprechen über ihre Einschätzung zur UN-Klimakonferenz in Glasgow 2021.

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Leo Johnson, Nachhaltigkeitsexperte und Moderator der Sendung „Hacking Capitalism“ auf BBC Radio 4

„Es bildet sich ein neuer Wirbelsturm“

Rasen wir weiter auf die Katastrophe zu, wie von UN-Generalsekretär Antonio Gutierrez prophezeit?

Die Zahlen verheissen nichts Gutes: Selbst wenn alle auf der UN-Klimakonferenz in Glasgow 2021 (COP26) vereinbarten Klimaschutzziele erreicht werden, so der Climate Action Tracker, steuern wir immer noch auf eine Erwärmung auf 2,4 °C zu, im schlimmsten Fall sogar 2,7 °C, wenn man die Klimaschutzverpflichtungen betrachtet, die nicht von politischen Klimaschutzmassnahmen flankiert sind.

Ausserdem gibt es eklatante Lücken bei grossen Themen – so einigte sich die Klimaschutzkonferenz auf eine „Abkehr“ und nicht auf einen „Ausstieg“ aus der Kohle, der Luftverkehr blieb unberücksichtigt und es bleiben die Defizite in der internationalen Klimafinanzierung zur Anpassung an den Klimawandel.

Die Ziellinie haben wir also nicht überquert. Egal ob Unternehmen, Regierungen oder Zivilgesellschaft, keine dieser Gruppen zeigte sich imstande, die Dekarbonisierung in dem notwendigen Tempo und Umfang voranzutreiben.

Hätte diese Klimakonferenz vor fünf Jahren stattgefunden, so ein Beobachter aus dem Nahen Osten, wäre sie sicher als herausragend bezeichnet worden.

Eine wichtige Sache aber hat die COP26 hervorgebracht: das Konzept eines neuen Ökosystems.

Von der „First Mover Coalition“ bis hin zur Einigung auf einen regelmässigeren Abgleich der Ziele mit wissenschaftlichen Erkenntnissen (Beschleunigung des Mechanismus zur schrittweisen Reduzierung der Emissionen) und zu wichtigen Verpflichtungen zu Methan und Forstwirtschaft hat die COP heute – 26 Jahre später – und trotz COVID-19 gezeigt, dass sie die Transformation vorantreiben kann.

Es bildet sich ein neuer Wirbelsturm, bei dem Unternehmen, Regierungen und die Zivilgesellschaft gemeinsam die neuen Institutionen und Mechanismen gestalten, die uns wieder auf Kurs bringen.

Rasen wir auf die Katastrophe zu? Die CO2-Kluft bleibt uns erst einmal erhalten, aber zum ersten Mal setzen wir die Puzzleteile zusammen, um uns gemeinsam an der Bekämpfung des Klimawandels zu beteiligen. Diese positive Entwicklung wurde durch die COP26 beschleunigt.

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Chris Goodall, Autor und Berater zu Themen wie CO2-arme Energieerzeugung und Kreislaufwirtschaft

„Die Botschaft ist bei den Unternehmen angekommen“

Der Klimagipfel in Glasgow steht ganz in der Tradition der bisherigen COPs – die Länder machen Zusagen, die Emissionen zu senken, ergreifen aber keine tiefgreifenden Massnahmen, um ihre Verpflichtungen zu erfüllen.

Nehmen wir zum Beispiel die „neue“ Verpflichtung, die Abholzung zu stoppen. Die Zusagen sind mehr oder weniger dieselben wie auf den vergangenen Klimagipfeln. Währenddessen schreitet der Waldverlust in Ländern wie Brasilien ungebremst voran.

Es gibt also gute Gründe, die weiteren Entwicklungen nach der Klimakonferenz in Glasgow pessimistisch zu sehen.

Die Regierungschefs kamen und gingen, sie machten überzogene und nicht erfüllbare Zusagen, und einen Kurswechsel in Sachen Klimapolitik haben sie in ihren Ländern schon gar nicht vollzogen.

Es gab grosse Länder, die ganz unerwartet von ihrer Haltung abgewichen sind. Niemand hat zum Beispiel damit gerechnet, dass Indien Netto-Null-CO2-Emissionen anstreben würde.

Da es aber keine konkreten Pläne gibt, wie die Verpflichtungen umgesetzt werden sollen, kommen Zweifel auf, ob die Konferenz in Glasgow wirklich etwas gebracht hat.

Auch hat niemand über die Schwierigkeiten gesprochen, die mit der von der Welt so dringend benötigten industriellen Revolution verbunden sind.

Nur sehr wenige Regierungschefs hatten den Mut, über die schmerzhaften Disruptionen und Anpassungen zu sprechen, die dafür nötig sind. Der britische Premierminister Boris Johnson ging sogar so weit, dass er jegliche Kosten verneinte: „Wir können umweltfreundlicher werden, ohne dafür bluten zu müssen.“

Es besteht aber auch Anlass zu Optimismus.

So ist zum Beispiel eine echte umfangreiche und effiziente Klimapolitik mittlerweile wahlentscheidend.

In fast allen grossen Ländern ist der Schutz der globalen Umwelt auf der Prioritätenliste der Wählerinnen und Wähler nach oben gerückt –

auch wenn dieses Bewusstsein sich noch nicht in der Bereitschaft widerspiegelt, alle Kosten für den Umstieg auf Klimastabilität zu zahlen und die damit verbundenen notwendigen Änderungen unserer Lebensweise mitzutragen. Dennoch sind die Scharen von Aktivistinnen und Aktivisten aus aller Welt, die die Strassen von Glasgow bevölkert haben, ein eindrucksvoller Beweis, dass das Klima bald zum wichtigsten politischen Thema wird.

Und vor allem ist bei den Unternehmen die Botschaft angekommen, dass ihr langfristiges Überleben davon abhängt, dass jedes einzelne von ihnen Massnahmen ergreift, um Netto-Null-Emissionen zu erreichen.

Diejenigen Unternehmen, die Allianzen mit ihren Kunden schliessen möchten, um die Dekarbonisierung zu beschleunigen, werden im Nachgang des Klimagipfels ein stärkeres Vertrauen geniessen.

Es ist etwas einfacher geworden, einen Zusammenhang zwischen „Gutes tun“ und „Wirtschaftlich handeln“ herzustellen.

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Hans B. (Teddy) Püttgen, Honorarprofessor an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne (EPFL)

„Das Glas ist halb voll und halb leer“

Die Ergebnisse der COP26 sind durchwachsen – für die einen sind sie ernüchternd, für die anderen ein solider Fortschritt.

US-Präsident Joe Biden, der französische Präsident Emanuel Macron und die Präsidentin der EU-Kommission, Ursula von der Leyen, gehörten zu den vielen Staats- und Regierungschefs, die am Eröffnungsplenum teilnahmen.

Der indische Premierminister Narenda Modi erkannte das Ziel der Klimaneutralität an, realistischerweise aber erst für 2070, und für Bundeskanzlerin Angela Merkel war dies sicherlich ihre letzte Teilnahme an der UN-Klimakonferenz, nachdem sie die erste COP vor 26 Jahren in Berlin geleitet hatte.

Der russische Präsident Wladimir Putin blieb der Konferenz von vornherein fern, ebenso wie sein chinesischer Amtskollege Xi Jinping, auch wenn China mit den USA eine gemeinsame Erklärung zum Klimawandel unterzeichnete.

Rund 105 Länder unterzeichneten einen Pakt gegen Methanausstoss, der die Reduzierung der Methangas-Emissionen – das Gas ist viel schädlicher als CO2 – um 30 Prozent bis 2030 vorsieht.

Australien, China, Indien und Russland haben die Vereinbarung allerdings nicht unterzeichnet.

Betrachtet man das Glas als halb voll, wurden deutliche Fortschritte gemacht, was die globale Einigung auf einen Stopp der Abholzung, ebenfalls bis 2030, anbelangt. Die EU wird hier ein Wegbereiter sein.

Zum allerersten Mal fand die Notwendigkeit, „… die Anstrengungen zum Ausstieg aus der Kohle zu beschleunigen und ineffiziente Subventionen für fossile Energieträger zu streichen“, ausdrücklich Erwähnung.

Nachdem „Ausstieg“ kurz vor der Unterzeichnung des Abschlussdokuments durch „Abkehr“ ersetzt wurde, war die Aufregung gross, zumal es offensichtlich keine transparente Konsultation dazu gab.

Durch diese Änderung in letzter Minute war die Formulierung in Sachen Reduzierung der Kohleverstromung auf einmal sehr präsent, ansonsten wäre sie in dem endlos langen Satz unter Punkt 36 im Abschnitt IV zur Milderung des Klimawandels untergegangen.1

Das Glas ist fast leer, was den Mechanismus zur CO2-Bepreisung anbelangt. Es besteht weitestgehend Einigkeit darüber, dass für eine massive Reduzierung der Emissionen die Nutzung emissionsintensiver Technologien teurer werden muss. Man ist sich jedoch uneinig, wie dies umgesetzt werden kann, ohne dass es zu Marktverzerrungen zwischen den Regionen kommt.

CO2-Steuern werden von der breiten Bevölkerung mehrheitlich abgelehnt. Die CO2-Preise an den Cap-and-Trade-Märkten sind zu volatil, als dass sie eine berechenbare Investmentumgebung bieten, die für ein langfristiges Engagement der Branche erforderlich ist. Eine universelle und vollständig umverteilte CO2-Gebühr, also keine Steuer, ist ein Thema, das auf den nächsten COPs unbedingt diskutiert werden muss.2